Thema und Ziel der Tagung
Ziel dieser deutsch-italienischen Tagung ist die Klärung und Neuformulierung der gemeinsamen Wurzeln des europäischen Kulturraums. Das Thema bildet die Korrespondenz und wechselseitige Abhängigkeit von Rechten (insbesondere Freiheits- und Gleichheitsrechten), die in den Verfassungen garantiert sind, und den Pflichten, die den Bürgerinnen und Bürgern zugemutet werden sollten, damit die Zivilgesellschaft in der Lage ist, eine faire Verteilung der Lasten und Vorteile auch unter Bedingungen von Konflikten und Dissens politisch und sozial zu entwickeln und durchzusetzen.
Das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten, insbesondere die Bedeutung der Pflichten, ist in aktuellen Debatten über die liberale Demokratie, ihre Krise und ihre Defizite nicht hinreichend präsent. Dabei ist fraglich, wie Bürgerinnen und Bürger ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen und das Gemeinwohl ohne ein Bewusstsein der Pflichten gerecht werden können. Die Zivilgesellschaft bleibt ohne jenes Bewusstsein defizitär.
Die aktuelle identitätspolitische Diskussion von Rechtsansprüchen ignoriert die Korrespondenz von Rechten und Pflichten. Ein äußerer Grund dafür ist, dass die Menschen- und Bürgerrechte primär als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert worden sind. Damit ist die Frage nach den ethischen Pflichten und Menschenpflichten, die den Menschenrechten korrespondieren, aber nicht erledigt. Ohne eine Klärung dieser Pflichten sind Rechtsansprüche nicht mit individuellen Verbindlichkeiten verknüpft und können allzu leicht in der politischen Rhetorik missbraucht werden.
In Philosophie, Ethik, Politik- und Rechtswissenschaften swoie der Soziologie werden unterschiedliche Pflichtbegriffe analysiert, deren Gehalt und Reichweite allerdings unklar ist. Als Beispiel dieser Unklarheit mag die Frage dienen, ob es in einer Pandemie eine Impfpflicht geben soll oder nicht. Es wäre grundsätzlich zu klären, um welche Art von Pflicht es sich hier handeln kann. Ähnlich klärungsbedürftig sind Pflichten als Rechtsbegriffe, insbesondere, insofern sie sich auf Grund- und Menschenrechte anwenden lassen. Sind Rechte und Pflichten symmetrisch oder asymmetrisch zu verstehen?
Die Pflichten sind ein vernachlässigtes Thema sowohl in der italienischen als auch der deutschsprachigen Rechtswissenschaft. Die Verfassungsrechtsprechung hat sich nur sporadisch auf diese Kategorie bezogen. Die verfassungsmäßigen Pflichten werden jedoch nicht nur ausdrücklich im Text der italienischen Verfassung erwähnt, sondern finden sich auch in den Bestimmungen, die die Grundprinzipien festlegen. In Art. 2 der Verfassung werden die Pflichten als Instrumente der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Solidarität behandelt. Der Grundsatz der Solidarität beruht auf dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung und verbindet sich mit den Grundsätzen des Personalismus und des Pluralismus und damit auch mit den Grundsätzen der gleichen sozialen Würde, der substanziellen Gleichheit und der Teilhabe, die ebenfalls zu den Grundprinzipien der Verfassungscharta gehören. Die verfassungsmäßigen Pflichten werden in Art. 2 der Verfassung als obligatorisch eingestuft, und zwar in symmetrischer Weise zur Unverletzlichkeit der in derselben Bestimmung verankerten Grundrechte. Diese Symmetrie, die der integrativen Funktion in einer inhomogenen Gesellschaft dient, ist dem Spannungsverhältnis zwischen unverletzlichen Rechten und Pflichten ausgesetzt.
Offen ist auch das Verhältnis zwischen politischen Pflichten wie etwa der Gemeinwohlverpflichtung des Staates gegenüber der Gemeinwohlverpflichtung des privaten Eigentums (Art.14, (2) GG). Den weiteren Rahmen dieser Probleme bildet der Gegensatz zwischen Liberalismus und Paternalismus. Liberale Ansprüche der Selbstbestimmung wie die Patientenautonomie scheinen paternalistische Maßnahmen auszuschließen.
Sowohl die verfassungsrechtlich bestimmten Rechtspflichten als auch die ethischen Pflichten umschreiben das, was Menschen in einer Gesellschaft einander schuldig sind. Beide Arten von Pflichten sind unverzichtbar für ein gutes Leben.
Die Tagung will dazu einen entschiedenen Beitrag leisten.
Die Tagung ist eine Veranstaltung der Euregio-Plattform für Menschenwürde und Menschenrechte (EUPHUR); Organisation: Dr. Robert Simon (Universität Bozen/Akademie Meran)